Montag, 7. Mai 2012

Kommen wir zum Heute

Nach einer Gewöhnungszeit habe ich mich doch mit dem Thema auseinandergesetzt und festgestellt, dass viele der betroffenen Erlebnisse schildern, die sich mit meinen Erfahrungen vergleichen lassen, was mir geholfen hat das mir selbst entgegengebrachte Ekelgefühl zu mindern. Gleichzeitig drängt in mir immer mehr der weiblich-dominante Teil auf Erfüllung seiner Selbstbestimmung. 

Phasen übertrieben gelebter Männlichkeit, in denen ich wieder einmal meine erstandenen Kleidungsstücke wegwarf wechselten immer wieder mit Exkursionen in teilweise weiblicher Kleidung, bei denen ich mir insgeheim wünschte erkannt zu werden, zu leben als was ich mich fühle.

Ich trage seit drei Jahren regelmäßig Strumpfhosen unter der normalen Kleidung und gelegentlich des Nachts auch schon mal offen mit passendem Schuhwerk (auf den Kauf von weitern Kleidungsstücken habe ich wegen meines Versprechens meiner Frau gegenüber und der Tatsache, dass ich mit einem ziemlich männlichen Körper daher komme verzichtet). Damit kann ich mir bisher helfen den Druck auf mein inneres Gleichgewicht abzumildern, komme aber zunehmend in Schieflage - meine frühere fast schon sprichwörtliche Ruhe ist dahin, oftmals reagiere ich über die Maßen, was für die meisten Außenstehenden eigentlich kaum erkennbar ist, da ich versuche es mir nicht sonderlich anmerken zu lassen, letztlich zerreißt es mich innerlich aber immer stärker. 

Eine Standardsituation ist beispielsweise, wenn mein Sohn etwas Falsches tut / eine gezogene Grenze überschreitet, kommt er an und entschuldigt sich meist sogar von selbst. – Am liebsten würde ich ihn in die Arme schließen und trösten, muss aber aus irgendwelchen hirnrissigen Gründen den strengen Vater herauskehren, der ich gar nicht sein will. Das hört sich sogar für mich seltsam an, trifft den Kern der Sache aber sehr gut. Belanglosigkeiten bringen mich in Sekundenschnelle auf 199 obwohl mir schon beim Schimpfen eigentlich bewusst ist, dass es mir leid tut. 

Der Druck wächst, die auslösenden Faktoren sind mir klar, nur helfen tut es mir nicht: 

Mein Arbeitgeber hat mich im März davon in Kenntnis gesetzt, dass ich nach Möglichkeit den Betrieb bis zum 30. Juni 2012 übernehmen soll. Die Tatsache, dass ich ab demnächst für eine mörderische Finanzierung, sowie das Einkommen von acht Erwerbstätigen verantwortlich sein soll, hat mir den abschließenden Anstoss gegeben die gegenwärtige Entwicklung einzuleiten - der mich antreibende Druck wurde unerträglich.

Ich weiß, dass ich der beruflichen Herausforderung gewachsen bin, da ich den Job aufgrund der zunehmenden Zurückhaltung meines Chefs seit ca. drei Jahren bereits wahrnehme. Ich habe erkannt, dass solange meine Kraft in zwei Hälften gespalten ist, die sich gegenseitig bekämpfen werde ich zukünftig vermutlich scheitern. Gleichzeitig jedoch ist die Praxisübernahme auch das Ziel und der Wunsch all meiner beruflichen Bemühungen der letzten 20 Jahre. Ein Verzicht auf die mir gebotene Chance würde die Hälfte meines zurückgelegten Lebensweges für absurd und nichtig erklären.

Meine Gefühle jedoch verunsichern mich immer mehr - alltägliche Momente erinnern mich immer wieder an die Sackgasse, auf die ich unaufhaltsam zu taumele. Selbst einfache Aufgaben benötigen inzwischen immer mehr Energie um von mir gelöst zu werden - es ist als ließen mich meine Ängste erstarren. Ich fühle mich zunehmend kraftloser. 

Die Frau in mir schreit ich will leben, der Mann brüllt zurück ich kann noch nicht gehen. In meinem bisherigen Leben habe ich mich noch nie so zerrissen und einsam gefühlt, da mir in dieser Angelegenheit selbst der Zugang zu meiner Frau, die mir in den letzten Jahren bei allen Schwierigkeiten zur Seite stand nicht möglich ist, ohne alles zu riskieren, was für mich Wert und Bestand hat: meine Familie. 

Mein Sohn hat von meinem seltsamen Verhalten noch nichts bemerkt und entwickelt sich für einen Jungen erwartungsgemäß: Jungs sind cool, Mädchen (zumindest teilweise) doof, seine Interessen gelten den typischen Verhaltensmustern und es ist gut so, zumindest lässt es mich hoffen, dass er nicht auch später mit ähnlichen Problemen konfrontiert wird. Er braucht seinen Vater und ich habe Angst genau dies zukünftig nicht mehr so sein zu können, wie ich es jetzt bin. 

Meine Frau – ja, das ist so eine Sache, obwohl sie der mir am nächsten stehende Mensch ist, die alles mit mir teilt, konnte ich Ihre Einstellung bisher nicht wirklich einschätzen und fragte mich was passieren würde wenn sie davon erfährt, dass ich mich den erforderlichen Behandlungen unterziehe.

Sie sah bislang in mir Ihren Traumpartner, wie sie mich zukünftig wahrnehmen würde war ungewiss. Aufgrund ihres bisherigen Verhaltens würde ich sagen sie vermutete bereits einiges von meinen Problemen, wagte aber nicht den letzten Schritt, der Gesamtwahrnehmung meines merkwürdigen Verhaltens. Ich liebe sie wie ich noch nie jemanden in meinem Leben geliebt habe und wagte am 26.03.2012 ihr alles zu gestehen, egal ob es das Ende unserer Beziehung ist oder nicht - zu Groß war der Druck. 

Die fortwährende  Lüge um meinen Zustand zu beenden erschien mir als einziger Ausweg meine innere Zerrissenheit zu beenden. Erfreulicherweise nahm meine Frau dies sehr gelassen hin, gestand Sie mir nun ihrerseits, dass sie dies bereits seit dem seltsamen Fund in meinem Handschuhfach vermutete.

Selbst nachdem meine Frau nun von mir und meiner Selbstwahrnehmung erfahren hat spüre ich wie der Druck zunimmt. Sie sagt sie wird mich abhängig von der durch die Therapie gestützten Entscheidung nach Leibeskräften unterstützen, schließlich liebt sie den Menschen, der ich bin. 

Sie hat mir sogar angeboten im Falle eines Falles einen Wohnortwechsel in Betracht zu ziehen, doch ich halte das für grundsätzlich falsch. Egal wohin wir gehen würden, blieben die Grundvoraussetzungen immer gleich. Ich würde immer zumindest in der ersten Zeit als Parodie einer richtigen Frau auftreten, bis die körperlichen Voraussetzungen eine andere Wahrnehmung suggerieren würden. 

Der damit verbundene Standortwechsel würde meinem Sohn mehr schaden, als der vorübergehende Spott am jetzigen Wohnort, zumal unsere Eigentumswohnung nunmehr abgezahlt ist und ein Verkauf die finanzielle Absicherung der Familie nur unnötig gefährden würde. 

Auch will ich nicht weiter vor mir und meiner Natur flüchten – das habe ich praktisch die letzten Jahrzehnte getan, indem ich die mir aufgezwungene Rolle lebte, obwohl ich mich darin nicht wohl fühlte. Ein relativ kurzer Kampf um meine zukünftige Existenz erscheint mir sinniger als ein nicht endender Konflikt mit jeder gegebenen Umgebung und oder mir selbst.

Meine zukünftigen Aufgaben erfordern den Mann, der ich zu sein scheine, mein gefühltes ich kommt mit der Situation jedoch zunehmend weniger zurecht. Ich setze mich derzeit ungewollt selber unter einen Druck, der durch äußere Umstände stetig geschürt wird und mir kaum Zeit oder eine Wahl lässt zu reflektieren, was ich als nächstes tun möchte.

Seit dem 02. April befinde ich mich nun in entsprechender Behandlung, die Erstaufnahme durch die psychosomatische Abteilung der Uniklinik in Essen erbrachte die eindeutige Diagnose "Transsexualität", welche im weiteren Verlauf durch einen Psychotherapeuten begleitet wird.

Meine Probleme wachsen trotzdem:

Mein berufliches Umfeld kennt mich seit zwei Jahrzehnten als entschlossenen Mann, der in Krisen- und Stresszeiten mit den Anforderungen wächst, das Wort unmöglich nicht wahrhaben will und versucht alle mitzureißen. 

Mandanten wie auch die Mitarbeiter kennen nur meine männliche Seite und ich weiß nicht wie sie darauf reagieren, wenn ich mit meinem innersten an sie herantrete. Auch stelle ich es mir schwierig vor meine Führungsposition in meiner jetzigen Position als Vorgesetzter zu behalten, wenn ich mich so verletzlich präsentiere, doch der Rückhalt durch meine Familie macht mich stark.

Schlimmer noch ist das Verhältnis zu meinen Mandanten. Vielleicht nicht alle, aber mit Sicherheit viele würden meinen Ratschlägen – und seien sie noch so fundiert – misstrauen, immerhin habe ich es ja geschafft mein halbes Leben damit zu vertrödeln gegen mich und meine Natur anzukämpfen. 

Wie sollte ich also annähernd in der Lage sein Ihnen das Richtige zu empfehlen? Dazu kommt, dass ich sehr viele Außentermine wahrzunehmen habe, die mich ziemlich exponieren. Was wird der Bankangestellte denken, wenn ich wie eine Frau gekleidet als Mann vor ihm stehe, um die Kreditlinie meines Mandanten zu verhandeln? Wie reagiert der Richter in einem finanzgerichtlichen Prozess, wenn ich so zu seinem Prozess erscheine? 

Mein Chef wird im August 70 und drängt mich den Steuerberaterlehrgang noch einmal anzugehen, er sieht in mir seine Unternehmensnachfolge und Altersvorsorge. Tatsächlich sind die ersten Gespräche bezüglich einer Praxisübernahme erfreulich positiv abgeschlossen worden, derzeit bemüht er sich die erforderliche Finanzierung sowie eine Übergangsregelung mit der Berufskammer auszuhandeln, damit ich die Praxis bis zum bestehen meiner Fortbildung führen darf.

Gleichzeitig fühle ich mich meinem Arbeitgeber freundschaftlich verbunden und wage mir nicht einmal vorzustellen was in ihm vorgeht, wenn er vor mein Problem gestellt wird und er bewerten muss, welche Auswirkungen meine gegenwärtige Gemütslage auf ihn und seine Zukunftsplanung hat. 

Dessen ungeachtet und ohne Rücksicht auf meine weitere berufliche Entwicklung habe ich auf anraten meines Psychotherapeuten am 02. Mai meinen Chef von meinen Problemen in Kenntnis gesetzt. 

Wieder einmal habe ich einen Menschen aus vorweg genommener Angst falsch eingeschätzt - unglaublicher Weise hat er sich die Zeit genommen sich alles anzuhören und hat entschieden, dass es keinerlei Einfluss auf seine Entscheidung haben wird, er begründete dies wie folgt:

  1. Letztendlich haben die letzten zwanzig Jahre ihm und seinen Mandanten gezeigt, was ich beruflich zu leisten imstande war.
  2. Ob ich nun in Zukunft Steuerberater oder Steuerberaterin sein werde ist unerheblich auch Frauen sind im Berufsbild durchaus erfolgreich und werden als solche nicht in Zweifel gezogen.
  3. Auch ein eventuell anderer - extern - in die Firma integrierter Steuerberater hat Höchstwahrscheinlich mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen, gerade weil er viele der bisher gegebenen Strukturen umwerfen würde, eine Übernahme durch einen Firmenangehörigen würden diese Probleme zunächst nicht betreffen.
  4. Um mich in meinem Weg zu unterstützen, versprach er mir für repräsentative Zwecke und den Kontakt nach außen für mindestens 3 Jahre weiter zur Verfügung zu stehen.
Er hat mich lediglich darum gebeten mich gegenüber der Belegschaft und den mir anvertrauten Mandanten erst bei Beginn des Alltagstest zu "outen" und diesen erst dann anzufangen, wenn ich gar nicht mehr anders kann. Die Reaktion des finanzierenden Kreditinstituts könnte er nicht voraussehen, sollte ich zum Zeitpunkt der Übernahme bereits indifferent auftreten.

So, nun sind wir bei der heutigen Situation angekommen. Mir ist bewusst, dass ich mich durch die detailreichen Darstellungen wie - Svenja* dies so schön ausdrücken würde - zum Löffel mache, doch ich denke, dass wenn dieses Tagebuch in irgendeiner Weise nicht nur mir helfen soll, muß dem oder der lesenden klar vor Augen stehen, wie sich der Leidensdruck sich bei mir äußerte. 

Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und seine eigene Art mit dem gelebten in Einklang zu stehen. Viele Erfahrungen mögen different oder übereinstimmend sein, doch um zu verstehen wie ich "ticke" ist ein über das bereits geschehene kürzen meines Lebensweges aus meiner Sichtweise sträflich.

(*Ihr für mich beeindruckender Blog "Svenja and the City" hat mir in der Wartezeit auf den Termin am 2. April viel Kraft gegeben)

2 Kommentare:

  1. Oh, wie schön. Du hast jetzt auch einen Blog gestartet. Das finde ich klasse. Ich entdecke ihn erst heute und muss mich erstmal in Ruhe einlesen.

    Liebe Grüße
    Svenja

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  2. Hallo Svenja, danke für die freundlichen Worte.

    Ich hoffe, dass nicht allzuviele fehler drin sind, schließlich habe ich den Blog innerhalb der letzten Tage sozusagen aus dem Boden gestampft, viel Zeit zum Korrekturlesen hatte ich noch nicht.

    Mir war es wichtiger erstmal so viel Information wie möglich zur Verfügung zu stellen, wobei du in gewisser Weise ein bisschen "Vorbild" warst, da die kompromißlose Schilderung Deiner erlebnisse mir im März bei meiner Entscheidung sehr geholfen haben.

    Der Kampf mit dem Internet, sowie meiner gerade eher als aufgekratzt zu bezeichnenden Gefühlswelt tun ihr übriges, dass mein Blog derzeit als Textwand erscheint und nicht auch durch Bilder aufgelockert wird, die Überarbeitung habe ich mir für nach dem Urlaub aufgehoben.

    Diana

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